Zur Geschichte von cirqu’: Wie es dazu kam, dass in der Alten Reithalle in Aarau ein Festival für aktuelle Zirkuskunst stattfindet.
Das zehntägige Festival für aktuelle Zirkuskunst cirqu’ findet in den ungeraden Jahren jeweils im Juni statt. Die atmosphärisch einmalige Alte Reithalle Aarau bildet das Festivalzentrum. Daneben gibt es auch andere Spielstätten in der Stadt.
Das Programm beinhaltet Inszenierungen, die sich durch Eigenständigkeit und innovativen Charakter auszeichnen. Neben weit gereisten Stücken, die den aktuellen Zirkus geprägt haben, finden auch unkonventionelle Experimente und verschrobene kleine Inszenierungen Platz. Zudem will cirqu’ nicht nur den internationalen Produktionen Raum geben, sondern auch die Schweizer Zirkus-Szene fördern.
Das Festival wird seit 2015 durchgeführt, seit 2017 als Biennale.
Der Verein cirqu’Aarau ist Mitglied des europäischen Netzwerks Circostrada und des Schweizerischen Berufsverbands der Zirkusschaffenden ProCirque.
Das Festival ist eng mit der Alten Reithalle Aarau verbunden. Ohne diese Halle an zentraler Lage gäbe es cirqu’ nicht, in ihren Gemäuern entstand die Idee dazu.
Die Alte Reithalle wurde im 19. Jahrhundert für die Kavallerie gebaut und bis 1972 entsprechend genutzt. Anschliessend stellte man sie der privaten Sportreiterei zur Verfügung. Und diese warb mit: «Wenn du noch in der alten Kavalleriehalle reiten willst, musst du jetzt dem Reitverein beitreten; sie wird nämlich in Kürze abgerissen.»
Heute steht die Alte Reithalle noch immer. Sie wurde renoviert und 2021 als flexibel nutzbare Bühne für Theater, Tanz, Zeitgenössischen Zirkus und Konzerte wiedereröffnet.
Zurück zur Geschichte: Nach dem Ende der Sportreiterei war die weitere Nutzung des Gebäudes lange nicht geklärt; Aargauer Kultur- und Theatergruppen kämpften für ein Haus für die Darstellenden Künste. Schliesslich begann das Theater Tuchlaube Aarau, heute Bühne Aarau, ab 2011 in der Sommersaison mit einer Zwischennutzung. Grösse und Ambiente der Halle eröffneten ungeahnte Möglichkeiten, Bühnenschaffende griffen diese auf und füllten den Raum mit ersten Inhalten.
Bereits 2012 – in der zweiten Sommersaison – wagte man Neues und zeigte Zeitgenössischen Zirkus: «Mädchen Mädchen» der Aargauer Gruppe Roikkuva. Ein Jahr später spielte der Jongleur Roman Müller mit seiner Compagnie Tr’espace das Stück «ArbeiT»; 2014 kam er wieder mit der Produktion «Le Cercle».
Roman Müller war fasziniert von der Alten Reithalle und erkannte deren Potenzial. Die Idee eines ambitionierten Festivals für Zeitgenössischen Zirkus nahm Formen an; Peter-Jakob Kelting, der Intendant der Bühne Aarau, unterstützte das Projekt massgeblich. Zeitgenössischer Zirkus sollte Teil des zukünftigen Programms der Alten Reithalle werden.
2015 begann Roman Müller, seine Vision umzusetzen; er realisierte zusammen mit seinem Team cirqu’4 (warum mit cirqu’1 beginnen, wenn bereits drei Sommer lang Zirkus in der Halle gezeigt worden war?). An den fünf Spieltagen zu Gast waren die französische Companie Un loup pour l’homme mit dem Stück «Face nord» und Jörg Müller mit den beiden Produktionen «Mobile» und «c/o».
cirqu’5 dauerte 2016 bereits acht Tage und zeigte Highlights wie «4x4: ephemeral architectures» der britischen Gandini Juggling in Zusammenarbeit mit Argovia Philharmonics sowie Jani Nuutinens «Un cirque plus juste».
2017 erreichte cirqu’6 die angestrebte Länge von zehn Tagen und war nun das «ausgewachsene» Festival, das sich Roman Müller vorgestellt hatte. In diesem Jahre beinhaltete das Programm elf Inszenierungen (u. a. «Pour le meilleur et pour le pire» von Cirque Aïtal und «La cosa» von Claudio Stellato) mit insgesamt 33 Vorstellungen vor mehr als 5’000 Zuschauer*innen. Zirkus fand nicht mehr nur in der Alten Reithalle statt, sondern breitete sich in der ganzen Stadt aus: Das Theater Tuchlaube, das Stadtmuseum, das Kasernenareal und der Bahnhofplatz wurden miteinbezogen. Bei der Festivaleröffnung verwandelte sich die gesamte Aarauer Altstadt in eine belebte Bühne.
Nach 2017 wurde das Festival zur Biennale. cirqu’7 im Jahr 2019 setzte den Schlusspunkt unter die Zwischennutzung der Alten Reithalle Aarau. Erneut lockte das Festival mehr als 5’000 Zuschauer*innen in die Stadt und zeigte eine ganze Reihe von Inszenierungen, die für Furore sorgten, zum Beispiel «Le Vide – essai de cirque» von Fragan Gehlker und Alexis Auffray, «Vortex» von Phia Ménard und «Fidelis fortibus» des Circus Ronaldo. Zudem fand das internationale Fachpublikum für drei Tage in Aarau zum «General Meeting» des europäischen Netzwerkes Circostrada zusammen. Es war ein sehr erfolgreicher Abschluss der Zwischennutzung, die insgesamt neun Jahren gedauert hatte.
Drei Faktoren trugen zum Erfolg von cirqu’ bei: Die Stadt Aarau wollte ein strahlkräftiges Festival im Bereich Darstellende Künste, mit der Alten Reithalle gab es einen neuen, mit Inhalten zu füllenden Raum und der Zeitgenössische Zirkus war in den letzten Jahren auch in der Schweiz immer bekannter geworden.
Gerade der letzte Punkt war essenziell. Obwohl zum Beispiel das Théâtre Vidy in Lausanne oder das Theaterspektakel in Zürich seit Jahrzehnten immer wieder zirzensische Produktionen zeigten, hatte sich der Zeitgenössische Zirkus in der Schweiz nicht richtig etablieren können. Förderinstitutionen und viele Theater hatten Zirkus lange nicht als förderungswürdig betrachtet. Diese Einschätzung änderte sich in den letzten Jahren und der Zeitgenössische Zirkus ist nun in der Kulturbotschaft des Bundesrats verankert. Das Festival cirqu’ entstand im richtigen Moment und trug mit seiner Ausstrahlung und Qualität zur Entwicklung des Zeitgenössischen Zirkus' in der Schweiz bei.